Allgemein heißt es, die Jugend sei politisch desinteressiert. Die Jugendforschung kontert dem gängigen Vorurteil. Im Gespräch mit Dr. Natalia Wächter, Jugendforscherin und Sozialpädagogin am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz.
Wie definieren Sie „Jugend“ in aktuellen Studien – welche Altersbereiche beziehen Sie typischerweise ein?
WÄCHTER: Grob wird unterschieden in Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren und junge Erwachsene im Alter von 20 bis 29 Jahren. Bekannte Jugendstudien beziehen sich meist auf das Jugendalter im engeren Sinn, also auf Jugendliche von 12 bis 19 Jahren. Junge Erwachsene sind zu einer eigenen Lebensphase und zu einem eigenen Forschungsfeld geworden: Junge Erwachsene übernehmen einerseits oft bereits Verantwortung in verschiedenen Bereichen und sind bereits ökonomisch unabhängig von den Eltern, sind andererseits aber noch sehr auf sich selbst und ihre eigene Entwicklung bezogen. Insgesamt sehen wir eine Ausweitung der Jugendphase in beide Richtungen – ältere Kinder sind schon früher an der Jugendphase orientiert und junge Erwachsene sind noch nicht in allen Aspekten „erwachsen“.
SELBSTWERTGEFÜHL WIRD GESCHWÄCHT
Welche Auswirkungen haben Plattformen wie TikTok, Instagram oder Influencer auf das Selbstbild und das Selbstwertgefühl junger Menschen?
Jugendliche sind sich zwar dessen bewusst, dass das Selbstwertgefühl unter der andauernden Konsumation von Social-Media-Inhalten leiden kann, und sie wissen auch, dass viele Bilder vom perfekten Körper und vom perfekten Urlaub nicht der Realität entsprechen. Allerdings wirken die Bilder und Videos trotzdem. Studien zeigen, dass regelmäßiges Konsumieren von Sozialen Medien das Selbstwertgefühl schwächt:
IDENTITÄTSBILDUNG
Wie beeinflussen soziale Medien die Identitätsbildung von Jugendlichen heute?
Jugendliche wollen einzigartig sein, und gleichzeitig wollen sie so sein wie alle anderen. Diesen Spagat gilt es zu bewältigen. Soziale Medien können bei der Identitätsbildung behilflich sein, zum Beispiel indem Selbstdarstellungen ausprobiert werden können. Für Jugendliche, die sich wenig integriert oder sich abgehängt fühlen, gibt es aber die Gefahr, sich von bestimmten Ideologien vereinnahmen zu lassen.
„ZU WENIG FORSCHUNGSFÖRDERUNG“
Welche aktuellen Forschungslücken sehen Sie in der Jugendforschung, insbesondere im europäischen Kontext?
Es gibt insgesamt zu wenig europäische Forschungsförderung, die sich explizit an die Jugendforschung richtet. An Österreichs Universitäten gibt es keine einzige Professur für Jugendforschung. Dennoch gibt es im Rahmen von soziologischer, pädagogischer und psychologischer Forschung viele regionale und internationale Forschungsgruppen, die sich in einem interdisziplinären Verständnis der Erforschung von Jugendlichen und ihren Lebenslagen widmen.
„FREIRÄUME NOTWENDIG“
Was brauchen Jugendliche heute am dringendsten von Schule, Gesellschaft oder Politik, um sich selbstbestimmt zu entwickeln?
Die Jugendzeit wurde lange Zeit als „Bildungs- und Freizeitmoratorium“ bezeichnet, was bedeutet, dass Jugendliche zum Zweck der Bildung von Aufgaben bezüglich Familie und Arbeit freigestellt sind. Mit dieser Freistellung zur Bildung geht auch mehr freie Zeit einher, die gewinnbringend für die eigene Persönlichkeitsentwicklung genutzt werden kann. Im Bildungssystem wird vermehrt auf messbaren Output gesetzt, und es gibt politische Bestrebungen, die Bildungszeiten wieder zu verkürzen. Dabei wird übersehen, dass Jugendliche nicht nur bestimmte Kompetenzen erwerben sollen, sondern für die Persönlichkeitsbildung Freiräume notwendig sind. Jugendliche stehen unter einem großen Selbstoptimierungsdruck, dem entgegengewirkt werden sollte.
NICHT AUSREICHEND VERTRETEN
Wie steht es insgesamt um das politische Interesse und die gesellschaftliche Teilhabe unserer Jugend?
Das politische Interesse von Jugendlichen ist so groß wie schon lange nicht mehr. Junge Menschen fühlen sich aber von der Politik nicht ausreichend vertreten. In der deutschen Shell-Jugendstudie gibt etwa weniger als die Hälfte der befragten Jugendlichen an, den politischen Parteien zu vertrauen. Während die Jugendlichen als aktuellen Schwerpunkt in der Politik vor allem Wirtschaft als Thema wahrnehmen, sehen sie die Themen, die ihnen wichtig wären, wie Bildung, Jugend und Soziales, stark vernachlässigt. Dem gestiegenen politischen Interesse entsprechend, findet es auch ein erheblicher Teil der jungen Generation wichtig, sich politisch zu engagieren, vorausgesetzt, es gibt Themen und Möglichkeiten, die ihren Interessen und Vorstellungen entgegenkommen:
UNTERSCHIEDLICHE LEBENSLAGEN
Sehen Sie bestimmte Missverständnisse oder Klischees über die heutige Jugend, die Sie aus Ihrer Forschung heraus gerne richtigstellen würden?
Dazu zwei Statements: Erstens, von DER Jugend zu sprechen, ist zu verkürzt. Es gibt zwar gemeinsame Herausforderungen und Ereignisse, die eine Generation erfährt, aber die Lebenslagen junger Menschen sind sehr unterschiedlich, unter anderem abhängig von sozialer Schicht, Bildung, Migrations- oder Fluchterfahrung und Geschlechtszugehörigkeit. Zweitens können wir aus unserer Forschung zu Medienkompetenzen festhalten, dass die Sichtweise von Jugendlichen als Digital Natives im Allgemeinen nicht gültig ist. Sie sind zwar mit digitalen Technologien aufgewachsen und haben Anwendungsfertigkeiten von klein auf erlernt, aber das bedeutet nicht, dass sie auch einen kritischeren Umgang erlernt haben. Die Fähigkeit, Informationen im digitalen Raum zu finden und bewerten zu können, fehlt Jugendlichen wie Erwachsenen zu einem guten Teil. Diese kritische Reflexionsfähigkeit muss erst erlernt und gefördert werden.






